Montag, 18. Juli 2011

Banale Brutalität, Tour de France 2011

Es ist einer dieser denkwürdigen Momente in der Geschichte einer Sportart, in der jener ganz normale Wahnsinn kurz innehält, verschreckt aus der eingenommenen gebückten Position hochschaut und die Augen hektisch-schweifend in die Ferne irrlichtern lässt. Soeben hat erneut ein Begleitfahrzeug bei dieser denkwürdigen 9. Etappe den Radprofi Juan-Antonio Flecha förmlich von der Straße gekegelt und eine kleine Kettenreaktion ausgelöst, die Johnny Hoogerland  im hohen Bogen und äusserst blutig in einen Weidezaun katapultierte. Kurz zuvor beendete Alexander Winokurow seine Tour bei einem anderen Sturz. Warum gibt es bei der Tour de France 2011, bei den Protagonisten der täglichen Qual zwischen 11er und 25er Ritzel so viele kapitale Stürze?



Die Radsport-Experten sind sich uneinig, bringen diverse Faktoren ins Spiel. Ursächlich erscheint das Naheliegende keine Erwähnung zu finden. In Abwesenheit eines über Alles und Jeden bestimmenden Lance Armstrong mit seinem pure Dominanz ausstrahlenden Team und eines aktuell schwächelnden Alberto Contador ist die Tour offen wie seit Jahren nicht mehr. Die derzeitige Zurückhaltung der Schleck-Brüder, die sich und ihr Team offensichtlich für die Alpen schonen, verstärkt diesen Effekt noch. Die Fahrer sind in Abwesenheit eines Leithammels und straffen Hierarchie schlichtweg risikofreudiger und werden nicht zurückgepfiffen.

Die genutzten Fahrräder sind insgesamt schneller aber durch den hohen Anteil von Carbon in den Laufrädern unter Aspekten der Bremssicherheit um 20 Jahre in der Entwicklung zurückgesprungen. Der begleitende Pressetross und die Betreuer in ihren Autos changieren zwischen wilder Paparazzo-Ekstase und Rallye Monte Carlo und riskieren zunehmend Leib und Leben. Last but not least hat die ASO als Veranstalter der Tour malerische aber auch halsbrecherisch enge Sträßchen, die für den durch Dopingskandale gebeutelten Sport die passende Optik und Action bieten sollen, ausgewählt.



Noch sind die spektakulären Szenen relativ glimpflich ausgegangen. Durch einen Oberschenkelbruch wird  das für 2012 geplante Karriereende von Alexander Winokurow wohl um einige Monate vorgezogen. Eine unglückliche Mischung aus Nässe und Fliehkraft schob den Kasachen und andere Fahrer auf einer nicht ausreichend als gefährlich gekennzeichneten Kurve in der Abfahrt vom Col du Pas de Peyrol von der Strecke.

Wann  führt die UCI, der Weltradsportverband mit Sitz in Lausanne verpflichtende Normen für die Bremsleistung ein, statt sich Gedanken um Rahmenwinkel und Position von Sattelnase zu Tretlager zu machen? Der nächste letale Fehler aus dem System Tour wird aber sicherlich kommen. Fehler sind menschlich und die Sicherheitsnetze auffällig locker gewoben - in der Welt der Flaschenträger, Edeldomestiken und Helden.

Sonntag, 17. Juli 2011

Schöner Laufen mit Emma und Paula

Hamburg ist neben Frankfurt und Roth sicher eines der großartigsten Triathlonevents Deutschlands, wahrscheinlich auch unter globalen Gesichtspunkten. Perfekte Organisation, hunderttausende zum Teil fachkundige und enthusiastische Zuschauer und meist behutsam und medial attraktiv zusammengestellte Startfelder mit - für eine Randsportart - soliden Medienverträgen bringen die Zutaten für den gelungenen Mix. Die schönste Zutat sind aber immer wieder Triathletinnen, die nicht nur kämpfen, wie alle Mitbewerberinnen im Feld, sondern "schön kämpfen".
Die Australierinnen Emma Snowsill, Emma Jackson und Emma Moffatt überzeugen durch gute Lauftechniken. Photo: Delly Carr / ITU Media
Es ist immer wieder erstaunlich, welch unterschiedlichen Laufstile und Techniken in der erweiterten weiblichen Weltspitze anzutreffen sind. Ein Indikator, dass die Leistungsdichte im Gegensatz zu den Herren noch etwas luftiger geschichtet ist. Olympischer Triathlon, als Ausdauersportart mit hoher Intensität, zieht seine Stärke aus der Athletik. Bei genauerer Analyse der erfolgreichen Triathletinnen der letzten Jahre auf der Kurzdistanz zeichnet sich eine Korrelation ab (Statistiken stehen auf Anfrage zur Verfügung. BTW: Schönes Thema für eine Master- oder Examensarbeit). In der absoluten Weltspitze, gemessen an Siegen und Podiumsplatzierungen bei WCS Triathlons, dominieren nicht nur die Athletinnen mit der stärksten Physis, wie Herz-, Kreislaufsystem, Muskulatur, Last-, Kraftverhältnis, etc. Ganz oben in den Top 3-6, wo die Luft wirklich dünn wird, dominieren auf Dauer Athletinnen mit sehr guter, vielleicht schon herausragender individueller Lauftechnik.

Individuell, weil natürlich die Physiognomie insbesondere bei Stellung des Schultergürtels und durch das Radtraining bedingte Beckenkippung Abweichungen vom Lehrbuch zulassen muss und Kompromisse einzugehen sind. Betrachtet man das Rennen der Frauen von Hamburg 2011, zeigten Emma Snowsill, Emma Jackson und mit kleinen Abstrichen Emma Moffatt aus Australien, wer hier den Benchmark setzt. Für mich keine Überraschung, dass sich diese Athletinnen durchsetzen mussten. Lediglich die abwesende, derzeit an einer leichten Muskelverletzung laborierende, mit außergewöhnlicher Souplesse dahinschwebende Paula Findlay aus Kanada ist eine der wenigen Top-Triathletinnen auf diesem Niveau. Vanessa Fernandes, über Jahre den Sport insbesondere auf der Laufstrecke mitgestaltend, fällt technisch von diesem Quartett doch deutlicher ab.
Laufästhetik für Triathleten, Teil 1: Australien war mit Emma Moffatt, Emma Jackson und Emma Snowsill (v.l.) nicht nur konditionell ganz weit vorne in Hamburg. Photo: Ingo Kutsche - www.sportforografie.biz
Die Winkelstellungen der unteren Extremitäten bis hin zum konsequenten Einbeziehen der Gesäßmuskulatur in den Vortrieb waren bei den Aussis in Hamburg nahezu idealtypisch. Bei den Frauen, dessen Muskelverteilung in der Leistungsspitze einer geringeren Streubreite unterliegt, als bei den Elite-Männern, wo auch ein durch muskuläre Verkürzungen bedingt unsauber laufender Bevan Docherty immer mal wieder den Sprung nach oben schafft, ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Wer 2012 in London dominieren will, hält mit einer exzellenten und daher auch Verletzungen vorbeugenden Lauftechnik das vielleicht entscheidende Puzzleteil in den Händen. Im Optimalfall wurden diese Bewegungsmuster in den sensiblen motorischen Phasen in Kindheit, Jugend und Adoleszenz von herausragenden Betreuern durch Leichtathletik- oder Crosslauftraining vermittelt. Für Erika und Hans Mustermann bleibt festzuhalten, dass Lauf-ABC, kurze Intervalle, Steigerungs-, Neigungsläufe und Co. nicht nur etwas in der Leichtathletikabteilung des Heimatvereins zu suchen haben. Einfach mal vor der nächsten Triathlonsaison reinschauen bei den Spezialisten!

Samstag, 16. Juli 2011

I'm here to win, Chris McCormacks Traum von London 2012

In der Retrospektive, irgendwo zwischen Drittel und Lebenshalbzeit hat der Australier Chris McCormack, Doppelweltmeister im Ironman Hawaii Triathlon sein Triathlonbuch I'm Here To Win: A World Champion's Advice for Peak Performance mit zuweilen sehr unterhaltsamen autobiografischen Passagen veröffentlicht.

I'm Here To Win: A World Champion's Advice for Peak Performance ist in der englischen Originalfassung ein kurzweiliger Lesestoff. (Photo: Amazon)
"Macca", der als ehemaliger Banker definitiv zu den smarteren Geschäftsleuten unter den Profis im Ironman zu zählen ist, versucht dabei ein wenig in die großen Fußspuren eines anderen ehemaligen erfolgreichen Triathleten zu treten. Lance Armstrong, Tour de France Imperator, Stiftungsgründer, Autor und us-amerikanische Markenikone ist eines der immament im Subkontext des ehemaligen Weltmeisters im Kurztriathlon mitschwingenden Vorbilder. Ist "I'm here to win" eine Leseempfehlung? Ja, aber man sollte der englischen Sprache und der Person Macca gerecht werden und auf die englische Originalausgabe zurückgreifen. So unterhaltsam, präzise und griffig kommt McCormack trotz einiger Redundanzen nur in der Muttersprache rüber, wenn er über "Delivery" und die Schwächen des bayerischen Intimfeindes parliert.

Der im Buch geübte lange Blick zurück und die Selbstanalyse mag sicherlich manchen tatsächlichen Sachverhalt dem Umstand subjektiver Verklärtheit untergeordnet haben. Nicht alle Schritte im Leben des Chris McCormack verfolgten einen Masterplan und waren wohl doch mehr Reaktion denn Aktion. Die Ausreifung jener scharf analysierenden und sehr eloquenten Persönlickeit, die ihn besonders in den letzten 10 Jahren seiner verdienten Laufbahn als Profisportler auszeichnet, lässt sich aber trefflich nachzeichnen. Macca ist aber nicht nur der berechnende Taktiker, der die vermeintlichen Schwächen - vor allem der deutschen Triathleten Faris Al-Sultan und Normann Stadler - gnadenlos im Vorfeld des sportlichen Aufeinandertreffens auszunutzen weiss. Er spielt das Stück der Beinflussung aus der Ferne präzise und virtuos auf der Klaviatur von Interviews oder Einsatz der sozialen Medien Blog, Facebook und Twitter. Am 4. April 1973 geboren und im Trimester zwischen den Metropolen Los Angelos, Sydney und der europäischen Rennsaison pendelnd, ist er vor allem auch ein Bauchmensch, dessen Kopf und Intuition oft das entscheidende zielversprechende Quäntchen Effet zusteuern.

Eine Mischung dieser Persönlichkeitfacetten mag McCormack, der den Thron des Ironman Hawaii nach vielen brutalstmöglich gescheiterten Anläufen erstmalig 2007 besteigen konnte zu dem Wunsch getrieben haben sein Heimatland bei den olympischen Spielen in London 2012 zu vertreten. Seine avisierte Rolle? Kein Superstar, Edelhelfer für die flinken Läufer auf dem Rad möchte er sein. McCormack kennt seine Laufdefizite und das System der steten Evolution und des Sportdarwiniwmus. Die Zeiten als er mit 31er und 32er Laufsplits auf den abschließenden 10 Kilometern über Monate hinweg die Kurzstrecke dominierte sind seit Jahren vorbei. London wird wahrscheinlich mit einer mittleren oder tiefen 28er Zeit über jene 10 Kilometer gewonnen, sofern es keine taktische Entscheidung auf dem Rad vorab geben wird - eine unerreichbare Zeit für eine langsam alternde Dieselengine.

Olympia ist auch in der Eigenvermarktung sowie zur Promotion seiner Stiftung "Maccanow" eine Chance. Ein Karrieremeilenstein, der ihm aus verbandspolitischen Gründen die Premiere der Sportart 2000 in seiner Heimatstadt Sydney nicht als Aktiven erleben ließ. 2004 bei den Spielen von Athen, auf einem Streckenprofil, vielleicht wie auf den Leib geschneidert, verhinderten Stolz und Trotz einen Start. Sein Eiertanz auf diversen Strecken im aktuellen Jahr könnte ihn die sportliche Saison 2011 und 2012 kosten. Eine Titelverteidigung beim Ironman Hawaii hat der ausgebuffte Selbstdarsteller bereits frühzeitig abgesagt, wenngleich viele Insider bei einem sich abzeichnenden Scheitern des Projekts London 2012 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Morgen des 8. Oktobers in Pazifik von Kailua-Kona McCormack beim entspannten Wassertreten erwarten. 

Der Weg durch die Untiefen des Qualifikationssystems der Internation Triathlon Union und des eigenen nationalen Verbandes Triathlon Australia lässt die Aufgabe London 2012 zu einem stetig wachsenden Wellenberg anwachsen, der sein sportliches Jahr 2011 und 2012 zu zerschlagen droht. Mit viel wohlwollendem Support hangelt sich McCormack durch erste Wildcards von Veranstaltern und Verband gestützt durch die Qualifikationsrennen der World Champions Series und unterklassiger ITU-Events, um auf die entscheidenden Punkte im Ranking und zu einem Stammplatz in der WCS zu kommen. Sein erster Ausflug beim Triathlon Kitzbühel mit denkbar ungünstiger Vorbereitung durch Verletzung, interkontinentalen Reisen zwecks Buchpromotion, Tingeltangel-Rennen und einem Sieg bei der Challenge Cairns knapp 14 Tage vor dem Startschuss im Schwarzsee kommt einem mittleren Desaster gleich.
Bei kühlen und im weiteren Verlauf durch Starkregen echtem Macca-Wetter erhält der Aussi bereits im Schwimmen über 1,5 Kilometer eine Lehrstunde und rund einminütgen Rückstand, von dem sich seine müden Beine auf der Radstrecke nicht mehr erholen sollten: DNF, neue Erfahrungen und enormer Respekt vor den "Kids, die so unglaublich schnell sind" nimmt er aus Österreich mit ins Handgepäck. McCormack lernte die neue Generation, die Inkarnation von Geschwindigkeit in Form eines der britischen Brownlee Brüder kennen, die derzeit nach Belieben die Serie dominieren. Ein Hauch von Ehrfurcht, den nur Maccas Nemesis "Sir" Simon Lessing hervorbringen konnte, weht aus den Verlautbarungen herüber.

Macca muss sich also sehr warm anziehen, soll der olympische Traum nicht eben nur ein Traum bleiben und bereits in Hamburg verpuffen. Wenn es in wenigen Stunden in die Alster per Kopfsprung geht, ist auf dem flachen aber technisch anspruchsvollen Radkurs ein Rennen wie in Kitzebühel ein Desaster. Schafft er das Schwimmen und Radfahren in den Zeitfenstern oder kann aktiv in das Renngeschehen eingreifen, dann ist eine 31er Laufleistung, wie beim Ironman 5150 Zürich letzte Woche gezeigt, ein guter und wichtiger Schritt auf dem steinigen Weg nach London: I'm here to win - DNF ist no option!


Update vom 16.07.2011, 15:55: Chris McCormack konnte sich bei seinem 2. Rennen der ITU WCS Series in Hamburg nach solidem Schwimmen und viel Initiative und Arbeitsleistung auf dem Rad mit Platz 26 knapp vor Landsmann Dan Wilson im Mittelfeld einreihen. Der Rückstand auf den siegreichen Landsmann Brad Kahlefeldt betrug 2:05 Minuten. Ebenfalls vor McCormack kam Brendan Sexton ein und hat die Nase auf der Jagd nach dem letzten Ticket der Aussis  für London 2012 weiterhin ein Stückchen vorne. Die nächste WCS-Station findet in drei Wochen auf einem Großteil der Olympischen Triathlonstrecke statt. McCormack hat den Sprung auf diese Startliste im Gegensatz zu Kahlefeldt, Courtney Atkinson, Jamie Huggett, James Seear, Sexton und Wilson wegen fehlender Weltcup-Punkte nicht geschafft und muss sich weiter von Einsatz zu Einsatz entwickeln.