Mittwoch, 20. Juli 2011

Raelert brothers Inc. - Andreas und Michael Raelert auf dem Durchmarsch zum Olymp im Langdistanztriathlon

Die Hitze wabert über dem heißen Asphalt auf dem Queen K Highway von Big Island, Hawaii. Jetzt noch diese langgezogene Steigung, dann eine Rechtskurve mit starkem Gefälle und eine kleine Schleife im Ort die eine Mischung zwischen Kreuzgang und Jubellauf gleicht. Das mögen die Gedanken von Andreas Raelert beim Ironman Hawaii 2010 gewesen sein, kurz bevor er nach stundenlanger Jagd im Marathon den Ausreißer und späteren Sieger Chris McCormack aus Australien eingeholt hatte.
Raelert Brothers Inc.: Das historisch erfolgreichste Geschwisterpaar auf den längeren Triathlondistanzen versucht sich analog zu den Boxern Vitali und Wladimir Klitschko als Paket auch außerhalb der Kernzielgruppen zu vermarkten. Photo: Donald Miralle (Erstpublikation LAVA Magazine)
Seite an Seite liefen die beiden für etliche Meter, bis McCormack, zwischenzeitlich immer wieder eine Schulterbreite Vorsprung verteidigend und damit seinen psychologischen Vorteil im Auge behaltend, an der Verpflegungsstrecke an der steil abfallenden Palani Road den siegentscheidenden zweiten Angriff setzte.

Der erste Angriff, der die Radgruppe auseinander riss, erfolgte zwischen Kawaihae und Hawi, kurz vor dem Wendepunkt der windanfälligen Radstrecke und sorgte für eine Zersprengung des Feldes und Isolation des vermeintlich stärksten Läufers Craig Alexander. Andreas Raelert konnte bei diesem Ironman Hawaii sehr viel lernen und für seinen Fünfjahres-Masterplan einige Haken auf der Checkliste setzen. Was ist von dem Rostocker und seinem Bruder Michael, dem zweifachen Weltmeister im Ironman 70.3 Triathlon von Clearwater in den nächsten zwei bis drei Jahren zu erwarten?

Es gibt wenige Triathleten auf der Langstrecke, die sich so professionell in der Analyse der sportlichen Leistungsfähigkeit und eigenen Markenbildung ausüben. Raelert Brothers, quasi das triathletische Inc.-Pendant zu den Klitschko-Brüdern, soll zum weltumspannenden Markenbegriff werden, der den Sprung aus der boomenden Nischensportart Ironman Triathlon schaffen könnte. Die Voraussetzungen scheinen gut. Triathlon boomt, gerade auch unter Entscheidern von Sponsorbudgets. Potentiell schnellere Triathleten mit den nötigen Basis-Fertigkeiten und Fähigkeiten für die Langstrecke werden aus dem Olympischen Programm erst ab Frühjahr und Herbst 2012 einen Wechsel erwägen. Sodann müssen sie sich durch das fordernde Qualifikationssystem der World Triathlon Corporation durchkämpfen und greifen frühestens 2013 mit Nachdruck in das Geschehen ein. Die Raelerts müssen sich also zunächst um den Status Quo und ihre eigenen Puzzleteilchen dauerhafter und umfassender sportlicher Leistungsfähigkeit kümmern.

Bei Betrachtung der beiden bodenständigen und im Wasser gleichermaßen dominanten Rostocker Brüder fällt auf, dass sie als ehemalige Schwimmer neben der naheliegenden Stärke im Wasser weder beim Radfahren oder Laufen Schwächen haben. Stärken, wohin das Auge blickt. Intelligent reagieren sie auf wechselnde taktische Herausforderungen auf der Langdistanz oder im Ironman 70.3 und machen insgesamt nur wenige Fehler.

Zunächst schockte Andreas Raelert trotz Eisenmangel und leistungshemmender Substitution von Eisen bei der Europameisterschaft im Ironman Triathlon von Frankfurt 2010 auf einer etwa um 5 Kilometer längeren Radstrecke. Nach Solofahrt im 42er Schnitt blieben die Uhren bei einem neuen um 5 Minuten schnelleren Streckenrekord von 4:20:35 Stunden stehen. Normann Stadler, Inhaber der alten Bestzeit zeigte sich noch im laufenden Rennen beeindruckt, als sich der Husarenritt abzeichnete. "Weiß er eigentlich, was er da macht?" Der 6. und 12. der Olympischen Spiele von Sydney und Athen knautschte aus seinem sichtlich angknockten Körper eine mittelprächtige Laufzeit und setzte sie ganz oben auf das Siegertörtchen. "Gut, er ist ein Mensch" mögen Profis auf dieser Welt erleichtert registriert haben.

Auf Hawaii des gleichen Jahres konzentrierte er sich auf seine Laufstärke und unterlag nur knapp dem Australier McCormack. Ihm unterliefen dort lediglich zwei Fehler. Zuerst verpasste er den entscheidenden Angriff von Chris McCormack auf dem Rad, dieser ließ sich nicht bitten und distanzierte alle schnellen Läufer vorentscheidend. Fehler Nummer 2 folgte nach dem späten Anschluß an Macca auf der Laufstrecke, als Raelert, unter massiven energetischen Druck stehend, sich nicht umgehend nach vorne verabschieden konnte und an der siegentscheidenden Stelle Getränke aufnahm, während McCormack den finalen Antritt und Angriff lancierte.

Bei der Challenge Roth rief Andreas Raelert das komplette Paket ab und pulverisierte mit der 7:41:33 Stunden den alten Streckenrekord von Luc Van Lierde. Er holte im Handstreich die nur eine Woche zuvor von Marino Vanhoenacker aufgestellte und an den Ironman Klagenfurt verlorene Weltbestzeit nach Roth zurück. Schockwellen aus dem Epizentrum im Fränkischen gehen noch immer durch die Triathlonlandschaft.
Die Messlatte ist aufgelegt, das Maßsystem aus den Fugen, wenngleich einem erfolgreichen Start beim Ironman Hawaii 2011 noch eine ins Ziel zu bringende volle Ironman-Distanz im Wege steht. Wunschgemäß soll dieses Rennen beim Ironman Regensburg stattfinden. Für manche Experten nach dem Rekordrennen von Roth ein sehr ambitioniertes Projekt auf des Messers Schneide und ernstes Warnzeichen für einen Erfolg in Kailua-Kona gute zwei Monate später, das dem Körper zu viel für eine Top-Leistung zumuten könnte.
Raelert Brothers Inc. in Action: Bei der Challenge Roth pulverisierte Andreas Raelert die Weltbestzeit im Triathlon. Als Coach zur Top-Zeit von 7:41:33 Stunden stand ihm der zweifache Weltmeister im Ironman 70.3, Michael Raelert (Hintergrund auf dem Rad) zur Seite. Photo: Ingo Kutsche - www.sportfotografie.biz
Michael Raelert entwickelte sich, von seinem Bruder trainiert und gelegentlich eingebremst, stetig weiter und ist auf der Halben Distanz, dem Ironman 70.3 eine echte Bank. Nahezu unschlagbar präsentierte sich Raelert bei der ersten erfolgreichen Titelverteidigung eines Ironman 70.3 Weltmeisters in Florida überhaupt. Am kommenden Wochenende in Frankfurt am Main möchte er den vakanten Europameistertitel seines Bruders Andreas bei seinem Debüt auf der Langstrecke holen und als wichtigen Meilenstein auf die letzten Punkte zur Erfüllung der Qualifikationskriterien für die WM auf Hawaii sichern. Wenn der Tag perfekt läuft, könnte der Zieleinlauf von Frankfurt wie folgt aussehen: Michael Raelert, Cameron Brown, Michael Göhner, Sylvain Sudrie, Patrick Vernay, Bert Jammer, Jan Raphael, Frank Vytrisal, Faris Al-Sultan (erkältet), Georg Potrebitsch, Thomas Hellriegel, Stephan Vuckovic.

Sind die beiden Raelerts auf Jahre unschlagbar? Die Chancen stehen durchaus gut, dass bei einem perfekten Rennen beider Brüder in den Lavafeldern an der Westküste Big Islands der Doppelsieg und damit die Sonderprämie von USD 1.000.000 des Laufschuhsponsors zur Ausschüttung kommen wird. Ein Doppelsieg auf diesem Niveau wäre ein Novum im Triathlon. Vergleichbares konnten erstmalig auf der Olympischen Distanz in dieser Form nur Alistair und Jonathan Brownlee im diesjährigen Madrider Rennen der ITU World Championship Series (BTW: ein unmöglicher Zungenverdreher-Titel) für sich verbuchen.
Die Chancen stehen bei einer erfolgreichen Qualifikation für den Ironman Hawaii Triathlon durchaus gut, dass bei einem perfekten Rennen beider Brüder in den Lavafeldern an der Westküste Big Islands der Doppelsieg und damit die Sonderprämie von USD 1.000.000 des Laufschuhsponsors K-Swiss zur Ausschüttung kommen wird. Photo: K-Swiss
Welche Gründe sprechen gegen einen Doppelsieg in den nächsten Jahren? Die Konkurrenz schläft nicht. Viele Athleten entwickeln sich ebenfalls weiter und spätestens 2013/2014 werden die Wechsel von spritzigen Triathleten der Olympischen Distanz erfolgreich vollzogen sein. Man muss den perfekten Tag haben, das Radmaterial darf keine Schwächen aufweisen (DNF: Stadler 2005, McCormack 2008), es darf kein Infekt vorliegen (DNS/DNF: diverse Athleten 2007) und die sportlichen Regeln (Gefahr der Disqualifikation oder Zeitstrafe: DQ/DSQ) müssen eingehalten werden.

Beiden Raelerts sind neben Talent, Intelligenz, Bescheidenheit und allen Attributen die einen Champion ausmachen auch mehrere Schwächen gemein. Beide zeichnet eine leichte Normabweichung jeweils einer Beinachse aus, die tendenziell eine Überlastung einer Körperhälfte nach sich ziehen kann. Interessanterweise tritt das Phänomen bei den Brüdern spiegelbildlich auf: Linkes Bein bei einem, rechtes Bein bei dem anderen Bruder.

Der Hang - beim jüngeren Bruder Michael - vielleicht doch die eine Einheit mehr als die Konkurrenz machen zu wollen ist ebenfalls nicht als Stärke zu werten. Der Körperfettanteil und das geringe Gesamtkörpergewicht beinhalten ebenfalls potentiellen Sprengstoff. Beide Parameter werden zeitweilig auf einem sehr schmalen Grad auf der Jagd nach 100% Leistungsfähigkeit am Tag X austariert. Mit dem Wunsch eines optimalen Kraft-Last Verhältnisses und dem zusätzlichen Trainingsstress sind weitere Risiken verbunden. Etwa Schäden am orthopädischen System in Form von Ermüdungsbrüchen, Sehnenreizungen oder auch eine gehäufte Infektanfälligkeit, etwa der Ausbruch eines durchaus die Leistung mindernden Herpes Labialis (Andreas Raelert, Hawaii 2010, Roth 2011).

Noch sind die Raelert Brothers keine Götter. Sie sind sterbliche Halbgötter mit allen Stärken und Schwächen, die sich anschicken weiter Triathlongeschichte zu schreiben oder aber grandios USD 1.000.000 zu verzocken. Die Sonderprämie ist ein angenehmer materieller Nebeneffekt Nach Aussage der Brüder stellt sie keine Motivation des gemeinsamen Traums von Kona dar, sondern hilft lediglich "die Wertigkeit der Sportart Triathlon und der gezeigten Leistungen widerzuspiegeln."

Update vom 20. Juli 2011, 13:00 Uhr: Michael Raelert hat seinen Start in Frankfurt wegen orthopädischer Probleme zurückgezogen. Weitere Informationen unter DNS: Michael Raelert sagt Start beim Ironman Frankfurt ab!

Update vom 04. August 2011, 08:00 Uhr: Andreas Raelert hat sich vertreten und dabei am linken Sprunggelenk verletzt. Weitere Informationen unter Verletzung am Sprunggelenk - Zitterpartie für Andreas Raelert um Start beim Iroman Hawaii Triathlon.

Montag, 18. Juli 2011

Flashiger Speedrausch mit 71km/h

Teilnehmer des Ironman 70.3 Wiesbaden und anderer Rennen in den deutschen Mittelgebirgen, die bergab regelmäßig an der 100 Stundenkilometer-Schallmauer kratzen, mögen über 71km/h auf dem Fahrradtacho müde lächeln. In Bergheim, Landkreis Dillingen war die 7 vorne auf dem Blitzerfoto beim nachmittäglichen Training des 7. Juli um 15:59 Uhr eine Pressemitteilung wert. Bezüglich Haltung und Ausrüstung kann festgehalten werden: Ordentlich aber beides durchaus ausbaufähig, um die Formkurve weiter mit dem Speed korrelieren zu lassen.
Gerne kann sich der 71er-Fahrer beim Verfasser für einen kleinen Erlebnisbericht melden. Foto: Polizei Bayern
Statt 80 Euro und einem Pünktchen auf der Flensbuger Liste, wie in der Welt der Kraftfahrzeuge üblich, wird auf den dahinsausenden Triathleten* selbst bei Offenlegung der Indentität keine dieser Repressalien zukommen. Daher lautet das heutige Motto des Tages Bitte melde dich, damit die Ehre der richtigen Person zuteil wird!

* Das Outfit lässt den Schluss zu, nicht das Bike.

Banale Brutalität, Tour de France 2011

Es ist einer dieser denkwürdigen Momente in der Geschichte einer Sportart, in der jener ganz normale Wahnsinn kurz innehält, verschreckt aus der eingenommenen gebückten Position hochschaut und die Augen hektisch-schweifend in die Ferne irrlichtern lässt. Soeben hat erneut ein Begleitfahrzeug bei dieser denkwürdigen 9. Etappe den Radprofi Juan-Antonio Flecha förmlich von der Straße gekegelt und eine kleine Kettenreaktion ausgelöst, die Johnny Hoogerland  im hohen Bogen und äusserst blutig in einen Weidezaun katapultierte. Kurz zuvor beendete Alexander Winokurow seine Tour bei einem anderen Sturz. Warum gibt es bei der Tour de France 2011, bei den Protagonisten der täglichen Qual zwischen 11er und 25er Ritzel so viele kapitale Stürze?



Die Radsport-Experten sind sich uneinig, bringen diverse Faktoren ins Spiel. Ursächlich erscheint das Naheliegende keine Erwähnung zu finden. In Abwesenheit eines über Alles und Jeden bestimmenden Lance Armstrong mit seinem pure Dominanz ausstrahlenden Team und eines aktuell schwächelnden Alberto Contador ist die Tour offen wie seit Jahren nicht mehr. Die derzeitige Zurückhaltung der Schleck-Brüder, die sich und ihr Team offensichtlich für die Alpen schonen, verstärkt diesen Effekt noch. Die Fahrer sind in Abwesenheit eines Leithammels und straffen Hierarchie schlichtweg risikofreudiger und werden nicht zurückgepfiffen.

Die genutzten Fahrräder sind insgesamt schneller aber durch den hohen Anteil von Carbon in den Laufrädern unter Aspekten der Bremssicherheit um 20 Jahre in der Entwicklung zurückgesprungen. Der begleitende Pressetross und die Betreuer in ihren Autos changieren zwischen wilder Paparazzo-Ekstase und Rallye Monte Carlo und riskieren zunehmend Leib und Leben. Last but not least hat die ASO als Veranstalter der Tour malerische aber auch halsbrecherisch enge Sträßchen, die für den durch Dopingskandale gebeutelten Sport die passende Optik und Action bieten sollen, ausgewählt.



Noch sind die spektakulären Szenen relativ glimpflich ausgegangen. Durch einen Oberschenkelbruch wird  das für 2012 geplante Karriereende von Alexander Winokurow wohl um einige Monate vorgezogen. Eine unglückliche Mischung aus Nässe und Fliehkraft schob den Kasachen und andere Fahrer auf einer nicht ausreichend als gefährlich gekennzeichneten Kurve in der Abfahrt vom Col du Pas de Peyrol von der Strecke.

Wann  führt die UCI, der Weltradsportverband mit Sitz in Lausanne verpflichtende Normen für die Bremsleistung ein, statt sich Gedanken um Rahmenwinkel und Position von Sattelnase zu Tretlager zu machen? Der nächste letale Fehler aus dem System Tour wird aber sicherlich kommen. Fehler sind menschlich und die Sicherheitsnetze auffällig locker gewoben - in der Welt der Flaschenträger, Edeldomestiken und Helden.